Über 1.600 Jahre Verehrung des heiligen Martin von Tours

Vom kaiserlichen Gardisten zum Soldaten Christi: Martin, der älteste heilige Bekenner

„Mein Herr, es ist ein harter Kampf, den wir in Deinem Dienste in diesem Dasein führen. Nun aber habe ich genug gestritten. Wenn Du aber gebietest, weiterhin für Deine Sache im Felde zu stehen, so soll die nachlassende Kraft des Alters kein Hindernis sein. Ich werde die Mission, die Du mir anvertraust, getreu erfüllen. Solange Du befiehlst, werde ich streiten. Und so willkommen dem Veteranen nach erfüllter Dienstzeit die Entlassung ist, so bleibt mein Geist doch Sieger über die Jahre, unnachgiebig gegenüber dem Alter.“ Die überlieferten letzten Worte dieses Mannes klingen wie ein soldatischer Rapport. Disziplin und Pflichterfüllung zeigen sich; Schwärmerisches, unkontrolliertes Gefühl müssen diesem Mann fremd gewesen sein. Gesprochen wurden diese Worte vor über 1.600 Jahren, im Jahr 397, von Martinus, Bischof von Tours, und schon zu Lebzeiten eine Legende. Sein Name war Programm: „Martinus“ leitet sich ab vom Kriegsgott Mars. Man könnte den Namen übersetzen als „zum (Kriegsgott) Mars gehörend“ oder „Kämpfer, Kriegerischer“. Um 316/317 wurde Martin im heutigen Ungarn als Sohn eines römischen Offiziers geboren und mit 15 Jahren eingezogen. Er diente in einer Eliteeinheit, der berittenen kaiserlichen Leibgarde. Schon während seiner Dienstzeit bereitete sich Martin drei Jahre lang auf die christliche Taufe vor.

Um 334 war der achtzehnjährige Gardeoffizier in Amiens stationiert. In dieses Jahr fällt das Ereignis, das bis heute das Andenken an Martin wachhält: In einem strengen Winter begegnete Martin am Stadttor von Amiens einem armen, unbekleideten Mann. Als der Bedauernswerte die Vorübergehenden vergeblich um Hilfe bat, verstand Martin, dass der Bettler ihm zugewiesen sei. Da er nichts anderes Hilfreiches besaß, fasste er sein Schwert und teilte seinen Offiziersmantel in der Mitte entzwei. Durchaus glaubhaft ist, was eine jüngere Quelle anfügt, weil es militärischem Denken entspricht. Außer dem Spott seiner Mitmenschen habe Martin auch noch eine Arreststrafe seitens seiner Vorgesetzten hinnehmen müssen: drei Tage Haft wegen mutwilliger Beschädigung von Militäreigentum.

Aber nicht die Liebestat des Martin allein, sondern ihre Deutung machte dieses Ereignis weltberühmt. In der Nacht, die auf die Mantelteilung folgte, erschien Martin im Traum Jesus Christus, bekleidet mit Martins halbem Militärmantel. Zu den ihn umgebenden Engeln sprach Christus: „Martinus, der noch nicht getauft ist, hat mich mit diesem Mantel bekleidet!“ In seinem Traum sah der junge Offizier die Aufforderung, den Militärdienst aufzugeben, um in den Dienst Gottes zu treten.

Die älteste Quelle erwähnt an keiner Stelle ein Pferd, auf dem der spätere Heilige bei der Mantelteilung gesessen hätte. Die Reiterpose des Helden mit dem Schwert war aber in römischer Zeit eine bekannte Stereotype in der Kunst. Spätere Darstellungen haben diesen alten Bildtyp, der den heldenhaften Soldaten darstellte, übernommen und zugleich verfremdet: Nicht mehr einen unterlegenen Gegner zwingt der Reiter in den Tod, er erhält durch das Teilen mit einem Notleidenden das irdische Leben und erwirbt sich durch diese christliche Haltung das ewige Leben. Aus dem Soldaten des Kaisers war der Soldat Christi geworden, der nicht Tod und Verderben, sondern Heil und Heilung bringt.

Martin ließ sich taufen, wurde Priester und lebte zunächst als Einsiedler. Um 360 gründete er in der Nähe von Poitiers ein Kloster, wo sich bald zahlreiche Gleichgesinnte fanden. Als Ratgeber und Nothelfer wurde er schnell bekannt. Nach etwa zehn Jahren, als ein neuer Bischof für Tours gesucht wurde, erkoren ihn die Menschen zu ihrem Favoriten. Am 4. Juli 372 wurde Martin zum Bischof geweiht – gegen den Widerstand vieler zeitgeistverhafteter Bischöfe. In seinem Amt muss er segensreich und vorbildlich gewirkt haben. In zahlreichen Legenden wird davon berichtet.

Der Tod erreichte Martin auf einer seiner Seelsorgsreisen. Am 8. November 397, im Alter von etwa 81 Jahren, starb Martin in Candes. Er wurde am 11. November in Tours unter ungeheurer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Martin erwarb in der Meinung des breiten Kirchenvolkes als einer der ersten Heiligen die Heiligkeit durch das unblutige Martyrium der Askese. Asketisches Mönchtum, Gerechtigkeitssinn und apostolische Weltzugewandtheit wurden zum Ideal eines lebenslänglichen christlichen Totaleinsatzes für Mönche und Priester.

Der Frankenkönig Chlodwig (481–511) erhob Martin zum Nationalheiligen und Schutzherrn der fränkischen Könige, die seitdem Martins Mantel in Schlachten mitführten. Dieser Soldatenmantel hatte es den Merowingern angetan. Der Soldatenmantel hieß in der zeitgenössischen Sprache der Römer „chlamys“. Diese chlamys war so in Mode gekommen war, daß es den Senatoren ausdrücklich verboten werden mußte, dieses Kleidungsstück zu tragen. Die Franken müssen aber statt „chlamys“ sehr bald „cappa“ zu Martins Soldatenmantel gesagt haben, denn das Haus, in dem die „cappa“ aufbewahrt wurde, erhielt den Namen „cap(p)ella“ und der Geistliche, der die Aufsicht zu führen hatte, wurde zum „cap(p)ellanus“. Die Kapelle, die kleine Kirche oder der Anbau an eine größere Kirche oder auch Musikergruppen, die ursprünglich an diesem Ort auftraten, alle haben, ebenso wie der Kaplan, ihren Namen letztlich vom heiligen Martin.

Popularität im gesamten christlichen Abendland gewann Martin durch die über ihn verfassten Schriften. Die älteste und wichtigste Schrift, die „Vita S. Martini“ (um 395), stammt von Sulpicius Severus (um 363–425), einem aquitanischen Adligen und Freund des Heiligen. Dieses Buch wurde zum Muster christlicher Hagiographie.

Die Legenden und die örtliche Verehrung des heiligen Martin strahlten in die gesamte Kirche aus: Martinskirchen entstanden überall. Allein in Frankreich wurden 3.667 Martinskirchen gezählt. Zur Besonderheit dieser Kirchen gehörte ihre Lage „extra muros“. Fünf Päpste haben sich den Namen Martin gewählt.

Das Martinibrauchtum hat inhaltlich eigentlich nur in der Mantelteilung einen Bezug zum Heiligen. In Gallien hatte sich eine Fastenzeit – später „Martinsquadragese“ genannt – vor Weihnachten ausgebildet, die am 11. November, dem Feiertag Martins, begann. Die Bedeutung dieses Tages scheint dazu geführt zu haben, dass nicht – wie sonst üblich – der Todestag, sondern der Tag der Beisetzung, eben nicht der 8., sondern der 11. November zum Gedächtnistag Martins wurde. Der Vortag des Martinstages, der sogenannte Martinsabend, nahm Formen an, wie sie heute noch vor dem Aschermittwoch beim Karneval bekannt sind. Essen, Trinken, Singen, Feiern verbanden sich mit Schlachtfest, Probieren des neuen Weins, der „Martinsminne“. Als Zins- und Pachttag förderte der 11. November die „Martinsgänse“, die u.a. Zahlungsmittel waren. Der Tag war auch Arbeitsbeginn oder -ende für das Gesinde. Dass die Armen und Kinder an einem solchen Tag ihren Tribut durch Heischegänge einforderten, war nur normal. In den Straßen brannten „Martinsfeuer“, für die ein Lichterumzug innerhalb der kirchlichen Tagesliturgie Auslöser gewesen war.

Im 18. und 19. Jahrhundert war das mittelalterliche Martinsbrauchtum weitgehend untergegangen oder unterdrückt worden. Nur am Niederrhein und in Düsseldorf hatte es überlebt und wurden um die Jahrhundertwende neu belebt. Allerdings wurde die einzelnen Elemente miteinander neu zu einem katechetischen Programm verbunden: Ein allgemeiner Martinszug vergegenwärtigte den Heiligen und seine Tat, vorgeführt im Spiel der Mantelteilung, gesungen in Liedern. Wilde Heischegänge wurden vielerorts durch die Übergabe einer Martinstüte ersetzt. Die Martinsfeuer verlöschten meist. An ihrer Stelle traten die Martinslampen auf, kunstvoll gestaltet aus Rüben, Holz oder Pappe.

Zur Zeit der Nazis kam das Martinsbrauchtum zum Erliegen: Ein Soldat, der nicht mehr mit dem Schwert für den Herrscher, sondern in Form der Nächstenliebe für Gott kämpfte, passte der herrschenden braunen Ideologie nicht. Nach 1945 gelang es wieder, das Martinsbrauchtum heimisch zu machen. Die Zeitverhältnisse, die die meisten am eigenen Leib aus der Perspektive des Bettlers erlebten, mögen ihren Teil dazu beigetragen haben.

Auch im Protestantismus erhielt sich eine gewisse Bedeutung des heiligen Martin. Martin Luther selbst trug den Namen des heiligen Martin. Trotz der Abschaffung der Heiligenverehrung blieb mancherorts die Martinsverehrung erhalten, indem sie einfach auf den Reformator übertragen wurde. Aus „Martinshörnchen“ wurden so die „Lutherbrötchen“. Die Verehrung des Reformators wiederum führte zu einer neuen Bildung von Martinsnamen: „Martin Luther“ wurde zum Rufnamen, Martin Luther King ist das bekanntestes Beispiel.

Religiöses Brauchtum ist die eine Seite einer Münze, deren andere die Liturgie darstellt. Wenn dieses Brauchtum seine Verbindung zur Liturgie verliert, wird es zur bloßen Folklore. Noch beinhaltet das Martinsbrauchtum die paradoxe christliche Botschaft: „Wer teilt, gewinnt“. Und wer sich erbarmt, der erbarmt sich Christi selbst. Dieser praktizierte christliche Glaube leuchtet wie eine Fackel in tiefer Nacht: Es wird hell und warm, Geborgenheit und Gemeinschaftsgeist entstehen. Dass die Menschen diese Botschaft über die Jahrhunderte verstanden haben, zeigt der Altar der Schneiderzunft in der Düsseldorfer Altstadtkirche Sankt Lambertus: Oben auf dem hölzernen Rahmen des Altarbildes ist der heilige Martin auf einem Pferde dargestellt, wie er soeben seinen Mantel teilt. Aber kein Bettler ist zu sehen. Die Betrachter selber müssen sich schon als die Bettler selbst erkennen.