Brauchen wir Bräuche – hat Tradition Zukunft?

Jubiläen haben es an sich, dass man an ihnen immer nach hinten schaut: Was sind die historischen Leistungen, Auffälligkeiten oder Merkwürdigkeiten? Worauf dürfen wir stolz sein? Vielleicht sogar: Was haben wir aus unserer Geschichte gelernt? Die vorgetragenen Ergebnisse sind politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle und auch manch andere Leistungen und – falls man tatsächlich zur Ehrlichkeit neigen sollte – auch die Offenbarung des einen oder anderen Faktums, das zwar keine Leistung ist, das man sich aber dennoch geleistet hat. Man misst die Geschichte in Quantitäten und lobt sich wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Qualitäten.

Visionäre wagen dann vielleicht noch einen Blick in die Zukunft: Wird sie tragfähig sein? Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Die Werbung für eine Diätmargarine ist mit diesem Spruch deshalb so erfolgreich, weil er unsere Mentalität trifft: Wir wollen alle so bleiben wie wir sind – oder einmal waren – in steter Gegenwart, agil, jung, wohlhabend, attraktiv und begehrenswert. Ist es wirklich das, was uns unverwechselbar macht, uns Profil gibt, uns spezifisch werden lässt?

Wechseln wir den Blickwinkel: Lassen wir die Erfolge und Errungenschaften, die Loblieder und Jubelarien anderen. In „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil heißt es an einer Stelle: „Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle ‚wie soll ich leben?‘“ Schauen wir einmal hinter die Oberflächlichkeiten von Gewinn und Verlust, Soll und Haben. Beschäftigen wir uns mit dem Sein, unserem Sein. Was macht uns zu den Menschen, die wir sind? Was prägt uns unverwechselbar und lebenslänglich?

Mit etwas Mühe und gegen manchen kaum benennbaren Widerstand kommen uns in diesem Zusammenhang zwei Begriffe zu Bewusstsein, die ich gerne ein wenig bedenken möchte: Brauch und Tradition.

Unter Intellektuellen ist die Reaktion auf die beiden Begriffe noch immer mehrheitlich abwehrend: Im Nationalismus und Nationalsozialismus ist Brauchtum missbraucht und ausgereizt worden. Sie haben die Höherwertigkeit und die Einzigartigkeit der Deutschen und der sogenannten „Arier“ beweisen sollen. Deshalb klebt am Brauchtum noch immer braune Farbe. Bräuche werden mit „Brauchtümelei“ verwechselt und allenfalls als Folklore touristisch vermarktet. Der Tradition geht es in unserer Spaßgesellschaft nicht viel anders: Wer im permanenten Jetzt lebt – selbst das Schulfach „Geschichte“ vegetiert ja nur noch als belächelte Randexistenz, kaum wahrnehmbar in dem einen oder anderen Schulalltag –, wer seine Welt als „global village“ versteht und nicht gerne aus der Dauernarkose von betäubendem Zeitgeist und den Hitparaden von dem, was gerade in oder „en vogue“ oder sonst wie angesagt ist, aufwacht, der merkt nicht einmal, was ihm eigentlich fehlt. Wer permanent im Jetzt lebt, steigert nur noch seine „Lebensqualität“ wie ein Süchtiger: Um wenigstens die Wirkung von heute zu erreichen, muss man morgen den heutigen Einsatz steigern. Besinnung wird in diesem Umfeld zum totalen Absturz, Nachdenklichkeit geriert zu einer Art von Geisteskrankheit. Man fühlt sich an zwei Sätze von Karl Kraus erinnert: Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.

Ausgerechnet Günther Anders, der durchaus bereit war, seine Zeit umzugestalten, hat in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in einer Metapherngeschichte vorweggenommen, wie die Medien unsere Wirklichkeit verändern: „Da es dem König aber wenig gefiel, dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. ‚Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen‘, waren seine Worte. ‚Nun darfst du es nicht mehr‘, waren deren Sinn. ‚Nun kannst du es nicht mehr‘, deren Wirkung.“ (G. Anders: Die Welt als Phantom und Matritze. In: Die Antiquiertheit des Menschen. München 1983, Bd. 1, 97). Suchen wir nicht mehr nach Lebenssinn, weil ihn uns die Medien angeblich liefern? Dürfen wir es nicht mehr, weil der Zeitgeist dies für überflüssig hält? Ist das Nicht-mehr-Vermissen von Sinnnotwendigkeiten die Wirkung dieses Zeitgeistes? Viele unserer Zeitgenossen reagieren auf solche Fragen, wie der Aphoristiker Lichtenberg es beschrieb: „Nichts kann zur Seelenruhe mehr beitragen, als wenn man keine Ahnung hat“.

„Brauch“ und „Tradition“ werden von Intellektuellen noch gerne den vermeintlich ewig Gestrigen zugeordnet. Nicht wahrgenommen wird, dass beide Begriffe und die zu ihnen gehörigen Werte Nationalismus und Nationalsozialismus, Kommunismus und Zeitgeist überlebt haben. Mehr noch: Sie haben neue Aktualität. Je höher die Wellen der Fastfood-Kultur, der Gegenwartsanbeter und narzisstisch Verzückten schwappen, desto stärker entwickelt sich auch die Gegenwelle derer, die diese Denkweisen hinterfragen und neue Wege in die Zukunft suchen. Und sie fragen nicht nach Rezepten, sondern nach gelebten Überzeugungen, nach Menschen, die – mit biografischen Brüchen und Zweifeln – Wegweiser sind, Zeugen für Lebenshaltungen, die überzeugend und glaubwürdig sind.

Was sind Bräuche?

„Es muss feste Bräuche geben,“ erklärt der Fuchs dem kleinen Prinzen (Antoine de Saint Exupéry: Der kleine Prinz. Düsseldorf 1978, 51), als dieser sich beim Versuch der Fuchszähmung unbeholfen anstellt. „Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen“, sagte der Fuchs. „Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, um so glücklicher werde ich mich fühlen. Um vier Uhr werde ich mich schon aufregen und beunruhigen; ich werde erfahren, wie teuer das Glück ist. Wenn du aber irgendwann kommst, kann ich nicht wissen, wann mein Herz da sein soll … Es muss feste Bräuche geben.“

Und als der kleine Prinz fragt: „Was heißt ‚fester Brauch?‘“, antwortet der Fuchs: „Auch etwas in Vergessenheit Geratenes. … Es ist das, was einen Tag vom anderen unterscheidet, eine Stunde von den anderen. … Sonst wären die Tage alle gleich …“

Der Hinweis, „es muss feste Bräuche geben“, scheint vordergründig nur wegen der Schnelllebigkeit unseren Zeit notwendig zu sein. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund, – einen, der zutiefst mit der menschlichen Existenz verbunden ist: Wahrscheinlich ist der Mensch das einzige Geschöpf, das sich seiner selbst bewusst ist. Wahrscheinlich weiß allein der Mensch, dass er nur „auf Zeit“ existiert, dass Geburt und Tod den Anfang und das Ende seiner irdischen Existenz markieren. Eben deshalb kennt der Mensch auch „Zeit“, lernte sie zu messen und fragt nach dem Sinn seines Lebens. Nur der Mensch fragt: Wer, was, wie, wann, wo – und hoffentlich auch – warum …

Man muss nicht die deutsche Klassik und ihre Klassiker lieben, um Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in eben diesem Sinne zu verstehen:

Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkel unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.

Die wichtigste Frage des Menschen lautet „Warum?“. Sie geht nicht einzelnen Fakten nach und fragt nicht nach begrenzten Vorgängen. „Warum“ erfragt immer das, was hinter den Fakten steckt. „Warum“ erforscht komplexe Zusammenhänge und Gründe. Dieses Geflecht von Erkenntnissen und Grundhaltungen, die menschliche Existenz tragfähig und erträglich machen, nennen wir „Sinn“.

Sinndeutung menschlichen Lebens geschieht vielfältig und auf verschiedenen Ebenen. Eine der bedeutendsten Sinndeutung menschlicher Existenz erfolgt durch die Gliederung des Jahres: In den biologischen Kreislauf, der sich nach dem Lauf der Gestirne richtet, haben die Menschen einen sich stets wiederholenden Festkreis integriert, in dem sich das komplette christliche Erlösungsangebot wiederfindet: Geburt, Leben, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi und das Leben der vorbildlichen Nachfolger (-innen), der Heiligen.

Christlicher Sinn, das Heilsangebot Gottes findet sich im Jahresfestkreis, dem Kirchenjahr. Dieser Sinn ist lebendig, wenn er in das Gedächtnis gerufen und gelebt wird, sich in Festen und Liturgie thematisiert, sich durch Riten und Brauchtum stabilisiert. Die Sinndeutung und das Heilsangebot werden so immer wieder theoretisch und praktisch-pragmatisch, spirituell und affektiv vollzogen und eingeübt.

„Prodit imago minor, quod sit substantia major“ lautet ein Titulus in einem Kodex Heinrich II.. Sinngemäß könnte man übersetzen: Das kleine Bild kündet vom größeren Wesen, das Endliche weitet sich in das Unendliche. Bilder, Symbole, Geschichten und Handlungen sollen transzendenten Sinn und unsichtbares Heil vergegenwärtigen: So berührt der Himmel die Erde – Zeit und Ewigkeit geben sich die Hände. Der Sinn der Liturgie wird lebendig in den Formen der Festbräuche. Bräuche, die sich von den Bezugsfesten abgekoppelt haben, werden – im ursprünglichen Wortsinn – sinnlos. Wie eine Pflanze, die ihre Wurzeln verliert und nicht mehr lebenswichtige Nahrung aus dem Boden ziehen kann, verdorren abgekapselte Bräuche zur bloßen Folklore, die nur noch solange praktiziert werden, wie irgendwer, und das ist meist der Fremdenverkehr, davon Nutzen hat. Lebendiger Brauch aber lebt vom Zusammenhang von Kirche und Welt, „fanum“ und „profanum“. Liturgie und Brauch sind Fest und Feier und damit zwei Seiten der einen Münze; christliche Pastoral will nicht nur Heil, sondern auch Heilung, Seelsorge umfasst immer auch Leibsorge. Geradezu manifest wird dies sichtbar, wenn neben jeder Wallfahrtskirche auch ein Gasthaus steht!

Katholische Feste sind immer sinnliche Feste: Man kann jedes katholische Fest sehen, hören, riechen, schmecken, anfassen. Und jedes Fest riecht anders, schmeckt anders, sieht anders aus … Feste sind dann katholisch, wenn sie Seele und Herz, Glauben und Verstand ansprechen. Der Brauch ersetzt keine Liturgie, sondern pflanzt die Festaussage in den Alltag.

Mit Recht sagt der Fuchs dem kleinen Prinzen, Bräuche seien in Vergessenheit geraten. So richtig dies in unseren Tagen ist, so froh darf man gleichzeitig darüber sein, dass religiöses Brauchtum nicht mehr das Odium des bloß Gestrigen umhüllt. Die Menschen sind auf der Suche nach ihrer Geschichte wieder auf die alten Lebensformen gestoßen und fragen nach: Warum feiert man gerade so Karneval? Was hat Fastnacht mit dem Christentum zu tun? Warum feiern wir Weihnachten vielfach noch als gefühlsseliges Familienfest? Woher kommt das Osterei? Hat der Gartenzwerg wirklich etwas mit dem Weihnachtsmann zu tun?

Wenn wir oft darüber stöhnen, dass ein Tag dem anderen gleicht und jeder mit Hetze vergeht, dann kann das Wissen um die Unterschiedlichkeit der Tage helfen, die Zeit neu zu gliedern und neu zu gewichten: Damit nicht alle Tage gleich sind und sich ein Tag vom anderen unterscheidet, müssen wir wieder lernen, was feste Bräuche sind.

Brauch wird definiert als „habitualisiertes Verhalten: Spontanes und bestimmtes Reagieren auf ein singuläres Ereignis in einer sozialen Situation“. Oft wird eine Trennung nach dem Modell „Äußere Schale – verpflichtender Kern“ angenommen: „Bräuche werden ausgeübt, vollzogen, sie können unterlassen werden, ohne dass die Volksordnung im wesentlichen gestört wird. Brauch liegt in der Sphäre des kultischen oder festlichen Handelns, ist ein erhöhendes Tun und Handeln, eine Ausdrucksform. Sitte aber wird beachtet, kann verletzt werden; man kann gegen die Sitte verstoßen … Sitte ist soziales Gebot … Was Sitte und Brauch verbindet, ist, dass Sitte zur Ausübung des Brauches verpflichtet. Sitte ist in diesem Sinne die Voraussetzung des Brauches, das, was ihn fordert.“

Der einzelne Mensch hat Gewohnheiten, aber keine Bräuche. Brauchtum setzt Gemeinschaftsbezug voraus. „Brauchtum ist gemeinschaftliches Handeln, durch Tradition bewahrt, von der Sitte gefordert, in Formen geprägt, mit Formen gesteigert, ein Inneres sinnbildlich ausdrückend, funktionell an Zeit oder Situation gebunden“ (Josef Dünninger).

Die idealtypischen Elemente des Brauchs lassen sich am Beispiel des Sankt-Martins-Festes erläutern:

  • Gemeinschaftliches Handeln: Die Martinsfeiern (-züge, -feuer etc.) werden von Kindergärten, Schulen, Brauchtumsvereinen, Kirchengemeinden etc. organisiert.
  • Tradition: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Festformen wieder aufgenommen, die im 19. Jahrhundert bei der Wiederbelebung des Martinsbrauches erst begründet wurden. Die mittelalterlichen Formen waren untergegangen.
  • Von der Sitte gefordert: Die Erwartungshaltung der Kinder und Erwachsenen, die Akzeptanz des hinter der Martinsfeier stehenden Gedankens „fordern“ die jährliche Feier.
  • In Formen geprägt, mit Formen gesteigert: Das Tun zu St. Martin dokumentiert „Unalltäglichkeit“; Martinsfackeln, Martinslieder, Martinszug, Mantelteilung, Martinsfeuer und das Gripschen belegen dies.
  • Ein Inneres sinnbildlich darstellend: Das äußere Zeichen ist das Tragen von „Licht“ in die Nacht, der Nachvollzug des Teilens beim „Gripschen“, „Schnörzen“ und oft auch bei der Aufteilung der erworbenen Gaben. Die sinnbildliche „Nachfolge“, die der einzelne Teilnehmer beim Martinszug dem Heiligen leistet, wie dieser sie Christus geleistet hat, die Verinnerlichung des Tuns durch Lieder und Erzählungen vervollständigen dies.
  • Funktionell an Zeit und Situation gebunden: Alle Erscheinungsformen des Martinsbrauchtums sind typisch und unverwechselbar.

Bräuche sind geschichtlich gewachsen, sie unterliegen den Gesetzen der Entwicklung und ändern sich mit der Zeit. Paradoxerweise ist ein Brauch um so lebendiger, je stärker er sich wandelt, also einzelne Brauchelemente (Träger/Akteure, phänomenologische Elemente, Funktionen) ausgetauscht werden. Man spricht von einer Biologie des Brauchtums: Der Auftritt des Nikolaus war vor 100 Jahren für Kinder noch der reale Auftritt eines Heiligen, während die Eltern damit versteckte pädagogische Ziele verfolgten. Heute ist der volksfromme Brauch des Nikolausbesuchs in der Regel kein familiäres Ereignis mehr, sondern ein Gruppenereignis (z.B. im Kindergarten), wobei sich die meisten Erzieherinnen Mühe geben, den Kinder zu erklären, dass die Rolle des Nikolaus gespielt wird.

Wozu brauchen wir Bräuche?

„Weint man bei euch vom Haus an oder erst auf dem Friedhof?“ lautet die immer wieder erheiternde Frage eines Trauergastes aus der Ferne. Diese Frage macht aber auch deutlich: An verschiedenen Orten gelten verschiedene Bräuche. Am fremden Ort entsteht Verlust an Sicherheit, weil nicht mehr bekannt ist, was Brauch ist. Was an dem einen Ort gerade schicklich und gut ist, kann eben andernorts das genaue Gegenteil sein. Was hier integriert, kann dort desintegrieren. In unserem Kulturkreis ist der unbedeckte Kopf einer Frau in einer katholischen Kirche kein Sakrileg. In südlichen Ländern wäre er falsch. Der unbedeckte Kopf eines Mannes in einer Synagoge ist weltweit undenkbar. Als Junge oder Mann mit bedecktem Kopf eine katholische Kirche zu betreten, gilt dagegen als völlig unschicklich.

Habitualisiertes Verhalten ist eine bedeutende Kulturleistung. Sie befreit den einzelnen von der permanenten Improvisation und konstant notwendiger Eigenmotivation. Die Bedeutung des Brauchs im Bereich des Sozialverhaltens erklärt sich selbst. Wer nicht weiß, was Brauch ist, hat keine Sicherheit, beleidigt unwissentlich andere oder macht sich selbst vielleicht lächerlich. Bräuche geben Sicherheit.

Religiöses Brauchtum passt sich an. Jeder Brauch setzt sich aus verschiedenen Einzelelementen zusammen; die einzelnen Faktoren verschieben sich nach den Notwendigkeiten ihrer Träger. Gerade dadurch ist sichergestellt, dass Bräuche ihren Sinn behalten. Lebendiges Brauchtum setzt Wandelbarkeit voraus.

Die Notwendigkeit habitualisierten Verhaltens auf religiösem Terrain ergibt sich durch den ständigen Versuch, Gotteserfahrungen auf verträgliche und angemessene Weise jedem zugänglich zu machen. Sowohl in kirchlichem Kult als auch bei religiösem Brauch werden theologische Erkenntnisse und ethische Normen internalisiert. Die soziale Kontrolle – im Dorf stärker als in der Stadt – sorgt zumindest für den formalen Brauchvollzug, die Verinnerlichung von Vorstellungen und die Einhaltung von Normen.

Zwar ist weder alles Brauchtum per se religiös fundiert, dennoch – unterstellt man, dass „Sitte“ den „Brauch“ erfordert – hat Brauchtum einen Bezug zum Religiösen, weil bei der „Sittlichkeit“ die Religion nicht weit absteht. Mit Sicherheit ist die Beziehung des Brauchs zur Religion oft eng, vielfach das entscheidende Motiv, dennoch gab und gibt es andere: den Vorteil bei gemeinschaftlich verrichteter Arbeit, die Etablierung von Rechtsbeziehungen, die Berechenbarkeit fremden Verhaltens, Freude an Spiel und Unterhaltung, die Fähigkeit zum Symboldenken und Symbolhandeln, die Herstellung sichtbarer sozialer Beziehungen usw. (nach Walter Hartinger).

Aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wissen wir: Je höher die Zahl der Sinne ist, mit der ein Tatbestand zur Kenntnis genommen wird, desto höher ist die Merkfähigkeit. Was ich nicht nur gehört, sondern aus gelesen oder sogar als Bild gesehen habe, merkt sich eben besser. Bezogen auf die religiöse Erfahrungswelt heißt dies nichts anderes als: Wer den Sinn der Fastenzeit durch das Spielen eines Narren in der Fastnacht erfährt, indem er in eine Maske schlüpft, entsprechende Lieder singt, besondere Speisen und Getränke zu sich nimmt, begreift den Sinn der Fastenzeit mit dem Herzen, wenn er versteht, was er da tut. Hier ist die Kirche mitten in der Welt, vergegenwärtigt Heil.

Religiöses Brauchtum gibt es in vielen Varianten: Es reicht von der Beziehung eines Brauchs zu einem sehr allgemeinen Numinosen auf der einen Seite bis zu Liturgie nahem Brauchtum auf der anderen Seite. Dazwischen sind das Brauchtum im Jahreslauf und zu bestimmten allgemeinen und persönlichen Festtagen sowie das Brauchtum bei Lebenswenden (Geburt, Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, Priesterweihe, Tod) angesiedelt.

So positiv auch die Vermittlung theologischen Wissens, ethischer Normen und Formen volksnaher Frömmigkeit sind, so negativ können aber auch Fehlentwicklungen sein: das Festhalten an überholten theologischen Positionen, die Zementierung von Fehlinterpretationen und der Transport fraglicher ethischer Normen. Für das Brauchtum im allgemeinen und das religiöse Brauchtum im besonderen gilt, was für fast alles im Leben gilt: Man muss darüber nachdenken, was man eigentlich wie und warum tut.

Sind Brauchtum und Tradition dasselbe?

Bräuche können eine Tradition haben, aber haben Traditionen auch Bräuche? Der Begriff „Tradition“ ist mindestens so sehr missbraucht wie der Brauchtumsbegriff. Die anhaltende Missverständlichkeit kann man sich klarmachen, wenn man weiß, dass man im Rheinland das schon Tradition nennt, was man zum ersten mal wiederholt. Zur „uralten Tradition“ wird es mit der zweiten Wiederholung!

Was dagegen wirklich Tradition ist, verdeutlicht die Redewendung: „Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern der Glut“. Der Kern einer Sache ist nicht immer der, den man sieht. Nicht das Kriegerdenkmal, das sich auch heute noch in vielen Orten findet, ist die Tradition. Es ist Anlass, an die zu denken, die ihr Leben geben mussten. Die Solidarität mit den Toten, das Wissen, dass ihr Tod etwas mit meinem Leben zu hat, das ist der Kern der Sache. Wenn diese „Glut“ weiter brennt, dann ist die Asche gleichgültig. Es ist nicht entscheidend, ob beim Schützenfest oder zu Allerseelen, mit Gewehr-, Kanonen- oder gar keinen Schüssen dessen gedacht wird. Entscheidend ist, dass das Wissen nicht verloren geht, dass wir Teil einer Reihe sind, die schon gestorben und noch nicht geboren ist. Nicht das Denkmal ist die Sinnmitte des Brauchs, sondern der Erhalt der sozialen Erfahrung, dass ich mich immer anderen verdanke und dass diese rein Recht auf mein Gedächtnis haben.

Was im säkularen Feld gilt, lässt sich im religiösen Bereich noch deutlicher machen. Wenn man Sankt Martin feiert, so geschieht das meist am Martinsabend. Jahrhunderte lang war dieser Tag eine Art von letztem Erntedankfest, ein Abschlussfest des Wirtschaftsjahres, Zeitpunkt für Personalwechsel und Markt, wo man sich für den Winter bevorratete. Zugleich war Martini ein Schwellenfest vor Beginn der Adventsquadragese. Der religiöse Aspekt durch den Tagesheiligen wurde bloß in Abbildungen bewahrt und im Heischen. Beim Feiern spielte Sankt Martin nahezu keine Rolle. Das änderte sich im 19. Jahrhundert, als in der deutschen Romantik nicht nur die Fastnacht, sondern auch Sankt Martin wiederentdeckt wurden. Es bildeten sich neue Brauchformen. Neben dem alten Martinsfeuer kommen Martinslampen auf: Das Licht, das im Christentum immer für Christus steht, wird in die Nacht getragen. Im Martinszug folgen die Teilnehmer dem Heiligen sprichwörtlich nach. Die vorgeführte Mantelteilung schreit förmlich: Tut in eurem Leben das Gleiche. Und wer anschließend heischt, bettelt, schnörzt oder gripscht, erfährt durch die Gaben, wie gut, ja wie paradiesisch, es einem gehen kann. Der Weckmann oder Stutenkerl, ein Gebildebrot, das den heiligen Bischof darstellt, ist als Bild und als Brot erfahrbar. Mit allen fünf Sinnen, durch Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen, erlaubt der Martinsbrauch die Erfassung dessen, was sein Kern ist: Wer teilt, gewinnt. Christ ist man durch tätigen Glauben. Vor Gott gerecht kann keiner werden, der die Not des Mitmenschen übersieht.

In der christlichen Tradition ist der sich wandelnde Martinsbrauch ein Element neben vielen. Die Bräuche wandeln sich; die in ihnen enthaltenen Ideen bleiben. Tradition in einem gut verstandenen Sinn ist kein Selbstzweck. Tradition meint das „trans ire“, das Hindurchgehen, das, was durch die Geschichte lohnt, hindurchgetragen zu werden. Was zu bewahren lohnt, sind die Inhalte, selten die Formen.

Vom Sinn des Brauchtums und der Tradition

Überall in der Welt leben Menschen an Orten, an denen sie nicht aufgewachsen sind. Sie haben irgendwann ihre Heimat verlassen, vielleicht sogar verlassen müssen. Wenn ein Sauerländer, der irgendwann zur Berufsausbildung nach Köln oder Düsseldorf gezogen ist und heute dort zu Hause ist, gefragt wird, was für ihn ein Baum oder ein Wald, Wasser oder der Himmel ist, hätte er viele Möglichkeiten, dies aus seinem derzeitigen Umfeld zu deuten. Er wird es aber nicht tun. Uns alle prägt einschneidend und grundsätzlich, was und wo wir zuerst Erfahrungen und Wissen gesucht haben. Nicht die windanfällige Kölner Parkpappel gibt diesem Menschen das Grundbild vom Baum, sondern der Baum im Sauerland, den er als Kind erlebt hat, der sich gegen Sturm und Schnee, Regen und Eis behauptete, Versteck und Zielpunkt, Ausguck und Heizmaterial zugleich war.

Warum überprüfen wir alles, was wir z. B. essen, an dem, was uns als Kind zu Hause gut geschmeckt hat? Was eine Erbsensuppe ist und wie sie schmecken muss, weiß ich von Hause, hat sich mir so unauslöschlich eingeprägt, dass ich jede Erbensuppe an der Erbenssuppe meiner Mutter prüfe. Heimat ist das, was bei mir die Grundprägungen vorgenommen hat. Und zu dieser Heimat gehören Bräuche und Traditionen, die mir bildhaft, sinnlich und unverwechselbar emotionsvoll Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft deuten helfen. Heimat ist das, wo ich meine tiefen Prägungen erhalten habe, die mich lebenslänglich begleiten.

Aus der Pädagogik wissen wir, dass das, was wir nicht benennen können, wir auch nicht kennen. Und das nicht Gewusste ist auch das nicht Bewusste. Wie das Begreifen einer Sache vielfach erst funktioniert, wenn es sprichwörtlich mit den Händen begriffen wird, so ist mir auch nur das bewusst, um das ich weiß. So wie ein Märchen Wahrheiten transportiert, sind Brauchtum und Tradition gleichfalls „Container“ für Sinn, der erschlossen werden will. Nicht der Martinszug macht mir den heiligen Bischof Martin zur prägenden Gestalt, aber das Wissen darum, was er warum getan hat und warum das für mich ein Vorbild ist.

„Es muss feste Bräuche geben,“ habe ich anfangs den Fuchs aus dem kleinen Prinzen zitiert. Und der Fuchs hat dem kleinen Prinzen erklärt, dass zum Brauch die Vertrautheit gehört, die Verlässlichkeit, der gleiche Zeitpunkt. Er sagt: „Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen. Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, um so glücklicher werde ich mich fühlen. Um vier Uhr werde ich mich schon aufregen und beunruhigen; ich werde erfahren, wie teuer das Glück ist. Wenn du aber irgendwann kommst, kann ich nicht wissen, wann mein Herz da sein soll … Es muss feste Bräuche geben.“

Wenn wir wissen sollen, wann unser Herz wo sein soll, oder anders formuliert, wie wir uns im Leben orientieren sollen, dann bedarf es des Brauchtums und der Traditionen, die gepflegt und verstanden sein müssen. Es bedarf einer Kultur der Erinnerung und Vergegenwärtigung, die den einzelnen lehrt, hinter die Dinge zu schauen, sich mit Oberflächlichkeiten nicht zufrieden zu geben. Brauchtum und Traditionen werden nicht um ihrer selbst willen geschätzt, sondern wegen ihres verborgenen Kerns, ihrer Botschaft.

Wer keine Tradition hat, hat auch keine Zukunft. Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß in der Regel auch nicht, wohin er will. Ein Kapitän aber, der seinen Zielhafen nicht weiß, wird nicht nur nie im Ziel ankommen, ja, er kann niemals ankommen. Und wer diese Erkenntnis auch gerne aus dem Mund von jemandem hören, der nachweislich nicht für traditionsorientiertes Denken steht, zitiere ich nach Bertold Brecht: „Aber wer den großen Sprung machen will, muss einige Schritte zurückgehen. Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen.“

Was kann in die Zukunft tragen? Der Volksmund sagt richtig: Wer heute nicht an morgen denkt, ist spätestens übermorgen nur noch von gestern! Morgen und Übermorgen leben nicht nur vom Heute, sondern auch vom Gestern und Vorgestern. Asche muss von Glut geschieden sein. Die Glut muss weiter getragen sein! Wir selbst entscheiden durch das, was wir tun und pflegen, durch das, was wir meiden oder leben, durch unser eigenes überzeugendes Beispiel, was für die, die nach uns kommen, tradierenswert ist. Die hier und heute gelebten Werte, die übernommenen Bräuche und Werte, die vollzogen werden, prägen und verpflichten zum Nachvollzug. Auch der organisierte Nachvollzug von Bräuchen befreit niemanden, selbst zu leben, selbst vorzuleben, selbst zu überzeugen, nichts zu fordern, was man nicht selbst auch einzubringen bereit ist.

Es ist und bleibt spannend, heute verantwortlich an den geistigen und geistlichen Fundamenten für morgen zu bauen.

© Manfred Becker-Huberti