„Du lieber, heiliger Nikolaus“

Ein Kinderbescherer im Lauf der Jahrhunderte

1.500 Jahre Tradition, legendäre Überhöhung, frömmste Inbrunst, kitschigste Verniedlichung und gnadenlose Vermarktung, pädagogische Instrumentalisierung, folkloristische Einvernahme und werbemäßige Trivialisierung hat der große alte Mann erstaunlich gut überstanden: Trotz allem gibt es ihn noch. Und wer Augen hat zu sehen, entdeckt hinter den flapsigen Nikoläusen und hinter dem oft nur formal lebendigen Brauchtum, ein Stück der Botschaft des alten Bischofs, die in Legende und Brauchtum erhalten wurde.

Der geballte Aufmarsch der Schokoladen-Nikoläuse in den Supermarktregalen beginnt nur wenige Wochen nach den Sommerferien: Noch ehe sich das Laub der Bäume verfärbt hat und die Regale den Geruch der abgewanderten Osterhasen richtig verloren haben, demonstrieren die Kaufleute Advent- und Weihnachtsstimmung durch die Galionsfigur der geschäftigen „stillen“ Adventszeit. Aus den Lautsprechern säuselt kaufanzeizend und penetrant Advents- und Weihnachtsmusik: „Du lieber, heilger Nikolaus“ und andere Lieder. Es ist nicht klar, ob die heutigen Kinder die Adventsstimmung mehr durch eigene Erfahrung oder durch die Werbung kennen, aber es scheint ein wohlig rotwarmes, goldschimmerndes Kinderparadies auf, wo gütige Gerechtigkeit gilt, und unverdient Geschenke verteilt werden. Dieses Glücksgefühl ist personifiziert und hat einen Namen: Nikolaus.

Heilig ist Nikolaus nur noch wenigen, auch im kirchlichen Raum. Der Heilige hat schlechte Karten, denn sein Fest – und damit auch seine Popularität – ist der Reform des römischen Kalenders zum Opfer gefallen. 1969 strich Papst Paul VI. den Gedenktag des heiligen Nikolaus am 6. Dezember als allgemein gebotener Feiertag aus dem römischen Generalkalender. Auch der am 1972 von der Vatikanischen Gottesdienstkommission konfirmierte Regionalkalender für den deutschen Sprachraum führt einen Nikolaustag als gebotenen Gedenktag nicht mehr auf.

Was nicht mehr geboten ist, ist aber deshalb noch lange nicht verboten. Nikolaus wird trotz seiner Kommerzialisierung und Folklorisierung – noch als Heiliger verehrt. Übertüncht und kaum noch sichtbar wird dies allerdings durch die Kommerzialisierung des Nikolaus, die als Hintergrundfolie Nikolaus als folkloristisches Element lebendig erhält: ein gütiger, übergewichtiger alter Herr, der als „Geschenke-Onkel“ sein Leben fristet. Wie konnte es zu dieser Heiligen-Demontage kommen„ Was ist der Grund für das Fortbestehen eines quasi säkularsierten Nikolaus“?

Wir wissen heute, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit einen Nikolaus als Bischof von Myra in Kleinasien gegeben hat. Wann genau er gelebt hat, kann niemand mehr belegen. Alle kursierenden Zahlenangaben sind falsch. Sicher ist nur, daß in der Ostkirche seit dem 4./5. Jahrhundert und in der Westkirche seit dem 7./8. Jahrhundert Legenden über diesen Heiligen kursieren. Bei diesen Legenden lässt sich nachweisen, dass sie eine Kompilation von zwei Personen mit Namen Nikolaus darstellen: einmal jenes Nikolaus von Myra und zum anderen von einem gleichnamigen Abt von Sion, Bischof von Pinora, gestorben am 10. Dezember 564 in Lykien. Seine Lebensgeschichte wurde mit der des Nikolaus von Myra unentwirrbar verwoben. Es ist nicht sicher, dass Nikolaus der richtige Name des Bischofs von Myra war. Es könnte sich auch um eine Ehrenbezeichnung handeln, denn „nikos“ bedeutet im Griechischen „Sieg“, „laos“ das „Volk“. „Nikolaos“ meint somit „Sieger des Volkes“. „Nikolaus“ könnte also jemanden bezeichnen, der das Böse besiegt und dem Volk gezeigt hat, wie das Gute siegreich bleibt. Eben dies könnte auf den Bischof Nikolaus zutreffen, der das Christentum gegen den tradierten Kult der Artemis (lat. Diana) verteidigt hat.

Die älteste Legende des Nikolaus ist die sogenannte Stratelatenlegende, die Erzählung von der Rettung von drei Feldherren (griech. stratelatoi: Feldherren). Diese Legende läßt sich auf das Ende des 5. bzw. den Verlauf des 6. Jahrhunderts datieren. Das Außerordentliche dieses Wunders sah die Antike darin, dass Nikolaus dieses Wunder zu Lebzeiten wirkte und dabei, in Myra anwesend, dem Kaiser in Konstantinopel im Traum erschien. Diese Tat machte Nikolaus nicht nur zu einem „Thaumaturgos“ (griech. Wundertäter), sondern zum „Hyperhagios“, einem „Überheiligen“, einer Gestalt, die „normale“ Heilige überragte. Der nach legendarischer Auffassung schon zu Lebzeiten unter die Engel versetzte Nikolaus starb einen normalen Tod, also nicht mehr den gewaltsamen Tod eines Blutzeugen oder Märtyrers. So wie Martin von Tours in der Westkirche, wurde Nikolaus in der Ostkirche der erste „confessor“, ein Bekenner, der durch sein lebenslanges Bekenntnis Zeugnis für Gott abgelegt hatte. Der „Hagios Nikolaos“, gewann eine derart überragende Bedeutung, daß ihm die „Apostelgleichheit“ zuerkannt wurde. Die griechisch-orthodoxe Kirche, die bis heute bestimmte Heilsereignissen einzelnen Wochentagen gewidmet hat, ordnet Nikolaus dem Donnerstag zu. Er ist der einzige Heilige, der außer der Gottesmutter und den Aposteln, zu dieser Ehre gelangt ist. Ein bulgarisches Sprichwort sagt: „Wenn Gott stirbt, dann wählen wir den heiligen Nikolaus zu seinem Nachfolger!“

Die Verehrung des Nikolaus lässt sich bereits im 7./8. Jahrhundert in der Westkirche nachweisen, sicherlich entstanden durch die griechischen Kolonien in Italien. Wenn es richtig ist, dass die Legenden Voraussetzung der kultischen Verehrung sind, kann man durchaus auch schon eine frühere Verehrung annehmen. Für den Raum nördlich der Alpen nimmt man meist an, dass die Nikolaus-Verehrung auch hier schon im 9. Jahrhundert belegbar ist, ein „Nikolaus-Boom“ aber erst durch die byzantinische Prinzessin Theophanu (959/960–991) initiiert wurde, die 972 in das ottonische Kaiserhaus einheiratete und Gemahlin Kaiser Otto II. (973–983) und Mutter Otto III. (983–1002) war. Durch sie wurde Nikolaus zum „Hausheiligen“ der Ottonen und Patron fast aller von den Ottonen gebauter Kirchen.

Aber während Theophanu die Ehre gebührt, den Nikolaus-Kult in Deutschland populär gemacht zu haben, besitzt ein anderer die Ehre, Nikolaus erstmals öffentlich nördlich der Alpen geehrt zu haben: Liudger, Gründerbischof des Bistums Münster. In Italien bei den Benediktinern hat er Nikolaus kennengelernt. Noch vor 800 weiht er in Billerbeck eine Kirche dem heiligen Nikolaus. Nördlich der Alpen war dies die älteste Nikolauskirche, die bereits 1074 durch einen Nachfolgebau ersetzt wurde.

Der Heilige drohte nach 1000 der westlichen Christenheit „verlorenzugehen“. Als die muslimischen Eroberer ihren Siegeszug durch Kleinasien erfolgreich fortsetzten, reifte in Süditalien die Idee, die Gebeine des übermächtigen Schutzheiligen vor den „Ungläubigen“ zu „retten“. 1071 hatten die Muslime den Byzantinern eine schwere Niederlage zugefügt, waren in Kleinasien eingedrungen und zogen plündernd durch Lykien. Die Bevölkerung von Myra war in das Gebirge geflüchtet. Kaufleuten von Bari gelang es in dieser Situation, sich in Myra in den Besitz der Reliquien des heiligen Nikolaus zu bringen und diese am 8. Mai 1087 nach Hause zu bringen. Am 9. Mai 1087 verehrten die Bareser zum ersten Mal die heiligen Gebeine. Bis auf den heutigen Tag wird deshalb in Bari der Translation der Reliquien des heiligen Nikolaus am 9. Mai gedacht; bis 1969 hatte dieses Fest in der gesamten Weltkirche Geltung.

Die wichtigste Innovation des lateinischen Abendlandes hinsichtlich der Weiterentwicklung der Grundlegenden des heiligen Nikolaus ist die Wundererzählung von der Auferweckung der getöteten Schüler. Die älteste Fassung liegt im 12. Jahrhunderts in dramatisierter Form in der Hildesheimer Handschrift „Liber sancti Godehardi“ vor. Die Forschung vermutet die Entstehung dieser Schülerlegende in Nordfrankreich. Die Schülerlegende ergänzt nicht nur die im Mittelmeerraum entstandenen Legenden, sondern prägt den Typ von Nikolaus, der als himmlischer Kinderfreund und Geschenkebringer in zahlreichen zeitabhängigen Metamorphosen bis in die Gegenwart fortlebt. Kult, Hagiographie, Ikonographie und Brauchentwicklung erfuhren von hier eine nach wie vor ungebrochene Vitalität, die sich im Gegensatz zur in Frage gestellten kanonischen Unantastbarkeit erhalten hat.

Dieser heilige Nikolaus wird zum Heiligen der Kinder, zu einem Geschenkebringer gemäß seiner Legenden: Nikolaus schenkt unerkannt und heimlich, so wie er in einer seiner Legenden drei Mädchen durch das „Einwerfen“ von ererbtem Gold vor Schande bewahrte. Er legt seine Geschenke in ein „Nikolaus-Schiff“, ein von Kindern gebastelter Gabenteller, der erst später durch Stiefel, Schuh und Strumpf ersetzt wurde. Entstanden ist das „Schiffchensetzen“, ein seit dem 15. Jahrhundert bekannter Brauch, durch das Schifferpatronat des Heiligen. In einer seiner Legenden rettet er Bootsfahrer. Nikolaus wurde so zum Patron der Schiffer. Nikolauskirchen finden sich in fast allen See- und Binnenhafenstädten.

Die größte Popularität gewann Nikolaus aber als heiliger Kinderbescherer. Sein Fest wurde zum Kinderfest, an dem die Kinder Geschenke erhielten. Dieses Brauchtum, das im Hause Martin Luthers auch gepflegt wurde, war reformationstheologisch aber obsolet: Weil die Heiligenverehrung abgeschafft wurde, durfte natürlich die Kinderbeschenkung damit nicht mehr gekoppelt sein. Martin Luther erfand deshalb das „Christkind“, das nun zu Weihnachten die Kinder bescherte. Die reformierten Niederländer widersetzten sich. Sie feiern bis heute Nikolaus und bescheren immer noch an diesem Tag. Gleiches taten die Katholiken, bis im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine Brauchangleichung stattfand: Das „Christkind“ wurde „katholisch“, der Weihnachtsbaum zog in die katholischen Häuser ein, dafür fand die Weihnachtskrippe Zugang in evangelische Häuser.

In der Zeit der Gegenreformation war, um die angegriffene Nikolausverehrung aufrecht zu erhalten und Missbräuche auszumerzen, das mittelalterliche Nikolausspiel zum Einkehrbrauchtum umgeformt worden: Nikolaus besucht die Kinder einer Familie zu Hause und befragt sie danach, ob sie ihre Gebete verrichten, ausreichendes religiöses Wissen besitzen und brav waren. Das katechetische Spiel, aus dem Eltern leicht auch ein „Drohspiel“ machen konnten, zeigte einen gut informierten Bischof, der lobend und strafend auftrat. Seine Geschenke trug ein Begleiter in einem Sack auf dem Rücken. Liebe Kinder erhielten Geschenke, bösen drohte die Rute oder gar der Abtransport im Sack. Der Nikolaus-Begleiter erschien meist als „schwarzer Mann“ an einer Kette und symbolisierte so das Böse, das dem Guten dienen mußte. Je nach Zeit und Landschaft heißt er „Knecht Ruprecht“, „rauher Knecht Ruprecht“ oder „rauher Percht“. Der letzte Begriff verweist einerseits auf den Teufel und andererseits auf die Entstehung des Namens Ruprecht. Teufliche Begriffe sind auch „Düvel“ oder „Bock“ oder der biblische Begriff „Beelzebub“. Daneben gibt es zahllose weitere Namen wie auch die Spottnamen „Hans Muff“ (Rheinland), Père Fouettard (Frankreich), Hans Trapp (Pfalz). Wie fremd diese Symbolik den Menschen heute geworden ist, belegt u. a. eine seit einiger Zeit in den Niederlanden laufende Diskussion: Ob es nicht rassistisch sei, wenn der Nikolaus-Begleiter, der „Swarte Piet“, mit dunkler Haut auftrete. Es ist nicht mehr bewusst, daß der „Piet“ ein Teufel, aber kein Farbiger ist.

Die Aufklärung brachte eine „Persönlichkeitsspaltung“ des Nikolaus. Im kirchlich-katholischen Bereich blieb der Heilige erhalten; von ihm spaltete sich der „böse Nikolaus“ ab, der in einer Person Nikolaus und Knecht Ruprecht darstellt. Für seine eigenen Kinder zeichnete der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann den 1845 erstmals im Druck erschienenen „Struwwelpeter“, der bis heute in zweistelliger Millionenauflage verbreitet wurde. Diese von zeitgemäß bürgerlicher Anpassungs- und Drohpädagogik gespeiste Bildgeschichte, greift die Figur des Nikolaus (nur noch am Namen und der roten Farbe des Mantels und der Zipfelmütze erkennbar) auf, füllt ihn inhaltlich aber völlig anders: „Niklaus“, „bös und wild“, steckt Kinder in ein Tintenfass, statt ihnen zu helfen.

Die Niederländer importierten ihren Nikolaus in die von ihnen besiedelte „neue Welt“. Aus Sinte Klaas wurde Saint Claus und schließlich Father Christmas, ein gemütlicher alter Dicker, den die Coca-Cola-Werbung in ihre Hausfarben Rot-Weiß gesteckt hatte und der dann in diesem Outfit nach dem Ersten Weltkrieg nach Europa reimportiert wurde: der Weihnachtsmann. Dieser Typ von säkularisiertem Nikolaus hatte im 19. Jahrhundert auch deutsche Vorläufer. „Herr Winter“, ein alter Mann mit Kapuze, Weihnachtsbaum und Geschenken. Als „Väterchen Frost“ hat ihn der Ostblock übernommen, der den Brauchbedarf befriedigen, die christlichen Festquellen aber kappen wollte.

Was ist geblieben„ Der heilige Bischof hat es heute schwer. Sein kommerzieller Widerpart hat nach wie vor Konjunktur. Das Wissen um die legendären Züge des Heiligen erledigt Nikolaus aber nicht für Gegenwart und Zukunft. Nikolaus gehört nicht als Relikt auf den Schrottplatz der Frömmigkeit. Der Heilige ist als Patron zahlloser Kirchen, Kapellen, Altäre, Orte überaus präsent. Die religiöse und die profane Verehrung des heiligen Nikolaus ermöglicht, unter der „Übermalung“ der Jahrhunderte das wieder hervorzuholen, was ihn so faszinierend gemacht hat: Nikolaus, das ist einer, der anderen vorgemacht hat, wie man vor Gott gerecht oder heilig wird. Besitz dient ihm nicht zur Repräsentation oder als Macht, sondern ist ein Geschenk Gottes, das dann Früchte bringt, wenn man es weitergibt. Schenken heißt hier: Ermöglichung der Teilnahme am Weg zu Gott hin. „Heilig“ umfaßt hier auch noch das körperliche Heilsein. Der Schenkende erledigt keine religiösen Pflichten, kauft sich nicht Anerkennung oder Liebe, er gibt ein Teil von sich – und das ohne „Quellenangabe“. Je mehr der profanisierte Nikolaus als Kaufanreiz verzweckt wird, desto reizloser wird sein Image. Was könnte unsere Zeit mehr gebrauchen als eine Leitfigur, die aller Käuflichkeit widerspricht?