Vom weihnachtlichen Hymnus zum X-mas-Rap

Weihnachtlicher als Indikatoren des Weihnachtsverständnisses

Weihnachtslieder sind zum Weihnachtsfest ein absolutes „Muss“, sei es, dass man noch selber singt und sich eventuell sogar dabei mit Instrumenten begleitet, sei es, dass man elektronische Tonträger in Anspruch nimmt. Uralte Lieder erklingen neben Kitsch und Pop, Süßliches neben Geistlichem und familiären „Stimmungsliedern“. Für den einzelnen ist wohl nicht nur der eigene Geschmack, sofern er zum Zuge kommt, entscheidend, sondern auch kindliche Prägung. Für das Gesamt der Weihnachtslieder gilt, dass sie Bestandteile sehr unterschiedlicher Weihnachtsfeiern und Festformen waren und sind. Ausgeprägt nach der jeweiligen Funktion, die sie hatten, haben sie sich viele – manchmal sehr gewandelt – bis heute gehalten. Dabei führt der historische Bogen, der zu schlagen ist, von kirchlich liturgischen Wechselgesängen (Responsorien) bis zum aktuellen „Christmas Hit“ oder „X-mas-Rap“.

Die frühesten Zeugen für Weihnachtslieder lassen sich im Kirchenraum finden. Sie sind beeindruckende Dialoge zwischen Geistlichen, Gemeinde oder Chor. Gerade ihnen kann man anmerken, was für alle Weihnachtslieder gilt: Sie sind nicht bloß Melodie und Text, Kunst oder eher weniger Kunst. Ihr Wert bestimmt sich auch subjektiv durch die Funktion, die diese Lieder für die Zuhörer oder Sänger haben.

Die frühen Belege für Weihnachtslieder stammen aus dem späten Mittelalter. Diese Lieder, „Leisen“ genannt, weil sie mit Kyrie eleison (gr. Herr, Erbarme Dich) enden, sind in lateinischer Sprache verfasst oder haben lateinisch-deutsche Mischtexte. Das älteste schriftlich überlieferte Weihnachtslied (11. Jh.) ist: „Sei uns willkommen, Herre Christ“. Das Lied „Nun komm, der Heiden Heiland“, das heute am besten in einer Fassung von Martin Luther bekannt ist, die 1524 gedruckt wurde, existiert in deutschen Übersetzungen mindestens seit dem 14. Jahrhundert. Es scheint aber viel älter zu sein: Ihm liegt der altkirchliche Hymnus „Veni redemptor gentium“ des Bischofs Ambrosius von Mailand (334–397) zugrunde. Auch das von Michael Praetorius (1571–1621) überlieferte „Mein Geist erhebt den Herren mein“ geht auf einen lateinischen Hymnus zurück, das Magnificat, das im Neuen Testament enthaltene Loblied Mariens (Lk 1,46–55). Das Lied gehört zu den wenigen Marienliedern, die Eingang in den evangelischen Kirchengesang fanden. Eines der schönsten überlieferten Weihnachtslieder, „Es ist ein Ros’ entsprungen“, kommt aus dem 15. Jahrhundert. Das Erblühen einer Rose „mitten im kalten Winter“ hat nichts mit dem Wunderglauben zu tun, nach dem in der Heiligen Nacht die Tiere sprechen und Blumen blühen. Es ist nicht eigentlich eine Rose gemeint, sondern ein „Reis“, nämlich jener, der aus dem Stamm Jesse wächst (Mt 1,16), Jesus Christus. Dem Mittelalter war diese Symbolik bekannt, was sich durch Jesusdarstellungen – unverkennbar durch das hinzugefügte Kreuz – in einer Rosenblüte zeigen lässt.

Am bekanntesten dürfte heute das lateinisch-deutsche Mischlied „In dulci jubilo“ sein, das sicher bis in das 14. Jahrhundert zurückreicht. Es ist eins der Wiegenlieder, das möglicherweise auch schon im außerliturgischen Bereich gesungen wurde. Gefasst ist dieses Lied nicht mehr als feierliches Gotteslob, den Hymnen vergleichbar. Die Sänger drücken ihre emotionale Hinwendung zum neugeborenen Messias in Kindsgestalt aus. Solche affektgeladenen Lieder standen im Mittelalter neben den ernsten Gesängen. „In dulci jubilo“ scheint in ein dramatisiertes Krippenspiel eingebunden gewesen zu sein. Sicher wissen wir es für „Magnum nomen Domini“ aus dem 14. Jahrhundert, das zusammen mit dem Wiegenlied „Joseph, lieber Joseph mein“ gesungen wurde. Ebenfalls zu Gattung der Kindleinwiegelieder gehört „Lasst uns das Kindlein wiegen“ aus der Zeit der 30-jährigen Krieges (1618–1648).

„Vom Himmel hoch, o Englein kommt“ stammt aus dem Jahr 1625. Die Handlung des Kindleinwiegens wird gekennzeichnet durch den eia- und susani-Refrain. Teil des Gottesdienstes zu Weihnachten war es, dass der Priester beim eia – eia die Wiege schaukelte. Zumindest in einigen Gebieten Deutschlands brachten die Kinder eigene kleine Wiegen mit in die Kirche, die – mit Glöckchen versehen – gleichfalls geschaukelt wurden. Gesang und Handlung gemeinsam führten zu einer verstärkten Verinnerlichung. Zum gleichen Genre gehört „Zu Bethlehem geboren“, das einem Kölner Psalter von 1638 entnommen ist.

Die älteren Weihnachtslieder aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit stammen allesamt aus dem Kirchenraum, sind Wechselgesänge, Wiegenlieder. Die älteren sind ernste, getragene Gesänge, die sich an einem mächtigen, zu verehrenden Gott richten. Die jüngeren Lieder haben eher ein liebliches Kind im Blickwinkel, das – in Form eines Fatschenkindes – gewiegt und angefasst werden durfte. Häusliche Festlichkeiten zu Weihnachten sind weder durch Liedgut noch durch literarische Zeugnisse belegt. Weihnachtsfeiern jenseits des Kirchenraumes sind nicht zuerst familiäre, sondern ständische Feiern der Zünfte.

Der Brauch des Kindleinwiegens ist die Vorform des Krippenspiels und der Krippenverehrung mit ihren Krippen-, Herbergs- und Hirtenliedern. Mit den Krippen, die von den Jesuiten im späten 16. Jahrhundert als Element der Katholischen Reform nach Deutschland gelangten, kam das Krippenspiel, bei dem halbdramatisierte Hirtenlieder gesungen wurden. Herbergssuche und Geburt, Verkündigung an die Hirten auf dem Felde und die Anbetung der Hirten und der heiligen Dreikönige an der Krippe benennen die Abläufe. Fast alle Krippen- und Hirtenlieder stammen ursprünglich aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, meist von unbekannten Musikern und Textern. Verbreitet wurden sie durch Flugblattdrucke. Diese Lieder gelangten zu einer ungeheuren Popularität, boten sie sich doch der armen Bevölkerung zur Identifikation mit dem armen Jesuskind an und verklärten sie für andere doch die Menschwerdung Gottes zu einem romantischen Ereignis. Gerade die Herbergssuchelieder kamen nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem neuen Aufblühen, weil sich viele Menschen in der besungenen Handlung wiederfanden. Bekanntestes Lied ist wohl „Wer klopfet an?“ Geradezu euphemisch klingt das Hirtenlied „O selige Nacht!“ aus dem Münsterschen Gesangbuch von 1677. Die Hirten sind hier Wortführer der Gläubigen, sie interpretieren das Geschehen verständlich und gehen über in Anbetung. Die geradezu tänzerische Freude fand gelegentlich auch Eingang in die Hirtenlieder gehobeneren Stils. Ein Beispiel hierfür ist „Kommt, ihr Hirten“, das Carl Riedel (1827–1888) nach einer volkstümlichen böhmischen Melodie gestaltet und mit Text versehen hat.

Die Hirten- und Krippenlieder geben Auskunft über eine fröhliche Weihnachtsfeier, deren ernster Inhalt verinnerlicht und stark emotionalisiert wurde. Die Lieder haben ein noch ungebrochenes Verhältnis zur Geburtserzählung, erleben mit und verstehen das Geburtsereignis als Beginn der persönlichen und allgemeinen Erlösung. Der Charakter von Reigenspielen, dramatisierte Dialoge, tänzerische Schrittakte, ja sogar modische Echo-Effekte (Anfang 17. Jh.) finden sich in diesen Liedern, die vor den Krippen in den Kirchen, manchmal auch in den an die Kirche angebauten Schuppen mit Krippenaufbauten gesungen wurden.

Mit der Reformation tat sich für die Weihnachtslieder ein neues Kapitel auf. Deutschsprachige Kirchenlieder waren eine der zentralen Vorgaben Luthers, weshalb deutsche Kirchenlieder in den Kirchen für die kirchliche Obrigkeit ein Indiz für reformatorische Grundhaltung wurden. Die evangelischen Weihnachtslieder entwickeln sich in zwei Schüben: In einer ersten außengerichteten Aktion, initiiert von Martin Luther selbst, suchten die Protestanten dem katholischen Liedgut ein eigenes entgegenzustellen. Inhalte sind die Darstellung Jesu als Held und Erlöser, Gottes Sohn und Wundertäter. „Vom Himmel hoch“ (ca. 1535) ist ein auch heute noch bekanntes Beispiel für diese erste protestantische Liederwelle. Der zweite Schub dieser Weihnachtslieder, verbunden mit der Gestalt von Paul Gerhardt (1607–1676), entstand zwar im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges und beinhaltet gelegentlich Erinnerungen daran, wendet sich aber nach innen: Ziel ist die gemütvolle Verinnerlichung der Christgeburt, die Hinwendung an den Neugeborenen. „Ich steh’ an deiner Krippe hier“ ist ein Beispiel für diese Lieder der zweiten Phase reformatorischer Weihnachtslieder. „Typisch evangelisch“ ist auch das „Quempas-Singen“, ein Weihnachtssingebrauch, bei dem in einer Kirche mehrere Chöre, die an verschiedenen Orten platziert sind, im Wechsel singen. Der Name leitet sich von dem lateinischen Lied „Quem pastores laudavere“ ab, das dabei gesungen wurde. Diese Weihnachtsfeiern fanden am Morgen des Weihnachtstages statt und dauerten oft mehrere Stunden. Die Schüler gestalten ihre Liedhefte – „Parzen“ genannt (vom lat. partu) – oft in naivkünstlerischer Weise, so dass sich etliche davon in Museen und Archiven erhalten haben. Kurrendesänger (vom lat. currere – laufen) nannte man jene Jungen, die einem Heischebrauch frönten und in einer „Rotte“ von etwa zehn Lateinschülern mit einem Präzeptor von Haus zu Haus zogen und mehrstimmige oft lateinische Choräle darboten. Dieser Brauch war von der Reformationszeit bis in das 19. Jahrhundert an ersten Weihnachtstag üblich.

Die ländlichen Gemeinschaften haben gegenüber den städtischen eigene Formen der Weihnachtslieder entwickelt, die eingebunden waren und sind in volkstümliche Schauspielformen. Zentraler Ort des Singens der ländlichen Umzugslieder ist nicht die familiäre Wohnstube, sondern die Dorfgasse, auf der die Spielgruppe von Haus zu Haus zog. Die „Stubenspiele“ fanden in jedem Haus eines Dorfes statt und bildeten so ein gleichmachendes soziales Netzwerk, das alle, arm und reich, Herr und Knecht, in die Dorfgemeinschaft einbezog. Die Dorfgemeinschaft wurde als das einende Band erlebt, der Brauch wirkte gemeinschaftsstabilisierend. Solche Umzugsspiele begannen am 6. Dezember mit inszenierten Katechesen; Nikolaus und Knecht Ruprecht lobten und straften. Während aber bei den Nikolausfeierlichkeiten die Nikolauslegende keine Rolle spielte, also nicht memoriert wurde, geschah dies bei den weihnachtlichen Bräuchen: Herbergssuche, Verkündigung an die Hirten, Anbetung der Hirten, Anreise der Dreikönige und Anbetung der Dreikönige, Sternsingen fußen auf den biblischen Vorgaben, an denen sich die Spielhandlung ausrichtet. Bemerkenswert an diesen Spielhandlungen ist, dass es bei ihnen nicht auf die Qualität der Darbietung, schauspielerische Leistung und qualitativen Textvortrag ankam. Einzig entscheidend war, dass die Stubenspiele stattfanden, nicht wie. Der Auftritt als solcher demonstrierte nach innen und außen den Fortbestand der dörflichen Gemeinschaft.

Dass sich im Laufe der Zeit bei den Stubenspielen katholische und evangelische Bräuche, Lieder und Anschauungen vermischten, empfindet kaum jemand mehr als Nachteil. Evangelische Kinder beim Nikolausspiel, muslimische Kinder im Martinszug sind den meisten Menschen kein Problem, im Gegenteil. Dass sich dabei aber auch religiöse Bezüge verlieren, Identitäten verloren gehen, Bräuche, abgekoppelt von der Liturgie, auf museale Folklore reduzieren, scheint nicht gern gehört zu werden.

Diese ländlichen „Stubenspiele“ hielten teilweise auch Einzug in die Städte und umgekehrt wurden städtische Brauchformen auch auf dem Land übernommen. Liedbeispiele dafür sind „Drei König’ führet göttlich’ Hand“ aus dem 17. Jahrhundert und „Die heil’gen drei König’ mit ihrigem Stern“ aus der Zeit vor dem 16. Jahrhundert.

Seit der Reformation hatte sich das Weihnachtsfest in den Städten immer mehr aus der Kirche in die Familie verlagert. Im 19. Jahrhundert fand die liturgische Feier zwar noch in der Kirche statt, das Weihnachtsfest aber wurde zu Hause gefeiert. Das Bürgertum hatte im Biedermeier vom Adel die kulturelle Leitaufgabe übernommen. Die Weihnachtsfeier mit Bescherung, Weihnachtsbaum und Festessen wurde zum Familienereignis. Entsprechend wandelte sich die mehrstimmige Chormusik der Kirche zum Sololied mit Klavierbegleitung. Hausmusik wurde en vogue. Passend zur selbstbewussten deutschen Gesellschaft entwickelte sich die adäquate Weihnacht: gemütvoll, familienzentriert, standesbewusst, patriarchalisch, stimmungsvoll – manchmal sogar inbrünstig. Der religiöse Impetus des Festes wurde nicht negiert, geriet aber durch die rituelle Inszenierung immer mehr in den Hintergrund. Außerordentlich aufschlussreich für dieses Sujet in der großbürgerlichen Variante ist die Beschreibung der Weihnachtsinszenierung durch die Konsulin von Thomas Mann in den „Buddenbrooks“.

Zwei neue Impulse erfährt das Weihnachtslied im 19. Jahrhundert: Zum einen entsteht die weihnachtliche Hausmusik, feste Potpourris für die Familienfeier, fast immer mit Klavierbegleitung, manchmal zusätzlich mit Streichern, in der Mittelschicht selbst gespielt, in der Oberschicht durch Musiker vorgetragen. Daneben und zugleich wurden die alten Weihnachtslieder modernisiert. Es entstand das „familienfreundliche Weihnachtslied“ (Ingeborg Weber-Kellermann) für den Hausgebrauch. Die sorgfältig in Szene gesetzten familiären Weihnachtsfeiern beinhalten in der Regel zwei Teile: einen mehr offiziellen und einen mehr privaten. Im Rahmen des ersten Teils stand die Weihnachtserzählung, die als Anlass des Treffens rituell, zeremoniell und konzertant „abgefeiert“ wurde. Fast immer beschloss das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ diesen Abschnitt und eröffnete den zweiten: Bescherung, Festessen und gemütliches Beisammensein. Eröffnet wurde die Bescherung vielfach mit „O Tannenbaum“. Diese und die weiteren Lieder städtischer Weihnachtsfeiern des 19. Jahrhunderts sind auch heute noch Bestandteil der familiären Weihnachtsfeiern, wenn auch vielfach die „selbstgemachte“ Hausmusik durch die „selbstgespielte“ CD ersetzt ist. „O du fröhliche“, „Der Christbaum ist der schönste Baum“, „Heiligste Nacht“, „Tochter Zion“ oder „Ihr Kinderlein kommet“ erklingen bei diesen Gelegenheiten. Die Veräußerlichung des weihnachtlichen Festsinns, die Gemengelage von bürgerlicher Festkultur, überbordenden Geschenkerwartungen und einem termingenau einbrechenden nibelungenhaften Familiensinn scheint in einem Lied geradezu konserviert: „Morgen, Kinder, wird’ was geben“. Sarkastisch hat Erich Kästner (1899–1974) diese Vorlage für ein sarkastisches Weihnachtslied genutzt: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! Nur wer hat, der kriegt noch geschenkt! Mutter schenkte euch das Leben. Das genügt, wenn man’s bedenkt. Einmal kommt auch eure Zeit. Morgen ist’s noch nicht so weit …“

Wieweit sich das familiäre Weihnachtsfest des 19. Jahrhunderts – und in seiner Tradition auch das des 20. Jahrhunderts – vom eigentlichen Festanlass entfernen kann, belegt das beliebte Lied „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, das Weihnachten auf den bloßen Geschenkanlass reduziert, der sich von anderen nur noch durch den „Weihnachtsmann“ unterscheidet, der sich problemlos gegen den „Osterhasen“ oder irgendwen anderen austauschen lässt. Die ungebrochene Popularität dieses Liedes, dessen Melodie übrigens von einem frivolen französischen Salonlied aus dem 18. Jahrhundert stammt, die bereits Mozart verwendet hat, belegen die darauf bezogenen Liedsatiren. Treffend karikiert z. B. Dieter Süverkrüp: „Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit vielen Gaben: Goldnes Armband, goldne Clips, Socken, Oberhemden, Schlips, Schnäpschen, Bierchen, Weihnachtsschwips – will man schließlich haben.“

Gegen diese zelebrierte Familienweihnacht der Gründerjahre hat um die Jahrhundertwende die Jugend Front gemacht. Die Jugendbewegung empfand die weihnachtliche Mischung von lamettabehangener Rührseligkeit, dankbarkeitsheischenden Familienpatriarchen und statusbewusster Repräsentation als unecht und überholt. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg suchte sie – jenseits hausbackener bürgerlicher Weihnachtspotpourris und als degoutant erachteten operettenhaften Feiern – nach Erneuerung. Sie suchten nicht nur nach der „blauen Blume“, sondern fanden in der Tradition alte Liedsätze, besonders Marienlieder, die ihnen tragfähigen Sinn vermittelten. Das Erlebnis in der Gruppe Gleichaltriger an Heimabenden, der Ersatz des Klaviers durch die „Klampfe“, Blockflöte und andere Instrumente waren kennzeichnend. Es bildete sich eine Jugendmusikbewegung, Singkreise entstanden. Nach Kirchenraum, Dorf und Familiensalon wurde das „offene Singen“ beim Gruppenabend populär. Eigene Liedliteratur erschien: der „Zupfgeigenhansl“, das Finkensteiner Liederbuch?. Und als die Jugendliche Generation der Wandervögel selbst Familiennester baute, nahm sie ihre Liedkultur in die neuen Familien mit. „Es kommt ein Schiff, geladen“, „Maria durch ein’ Dornwald ging“ oder „Meerstern, ich dich grüße“ sind typisch für diesen Liedtyp, der ernst und besinnlich und marianisch-mystisch sein konnte. Sicherlich waren die Marienlieder, auch wenn sie einen Eindruck von marianischer Frömmigkeit vermittelten, keine Glaubensbekenntnisse, eher Stimmungsanzeiger. In ihnen leuchtet aber etwas von jener Konfessionsgrenzen überschreitenden Sinnsuche auf, die jene junge Generation kennzeichnete. Das vielleicht beeindruckendste Lied, nachdenklich und ahnungsvoll schwermütig, ist ?Die Nacht ist vorgedrungen“ aus dem Jahr 1938 von Jochen Klepper (1903–1942), das Schuld, Sünde und Rettung thematisiert. Nur wenige Jahre später, 1942, sieht Klepper für sich, seine jüdische Frau und seine Tochter nur noch den Ausweg im Suizid.

Die Epoche des „1000-jährigen Reiches“ suchte ab 1933 und bis 1945 das Weihnachtsfest konsequent von allem Christlichen zu reinigen. Ideologiekonform wurde der Christbaum, der ja schon zum Weihnachtsbaum profanisiert worden war, zur „Jultanne“ oder zum „Weltenbaum“. Sonnwendfeier, Auferstehung der Natur, Lebenshoffnung wurden neue Festinhalte. Die Heimat-Weihnacht wurden für die Männer an der Front zur sehnsuchtsvoll memorierten Ikone von Friede und Freude. Zu Hause suchte die Partei das Fest nationalistisch gleichzuschalten: „denn deutsche Art ist es, Weihnachten zu feiern!“ Ein ganz allgemeiner religiöser Sinn schwabbelte in den Parteiäußerungen nur noch nebelhaft. Ein Beispiel: „Tal und Hügel sind verschneit und die Nächte schweigen, da wir uns zu dieser Zeit vor der Stille neigen. Grünt ein Tännlein irgendwo tief im Wald verborgen. Das macht unsre Herzen froh wie ein lichter Morgen“. Ein anderes Beispiel: „Es wird geschehn: auferstehn wird ein neues Licht. Licht muss wieder werden nach diesen dunklen Tagen. Lasst uns nicht fragen, ob wir es sehn, es wird geschehn; auferstehn wird ein neues Licht.“ Wieweit Menschen im familiären Bereich diesem braunen Schwulst widerstanden haben, vermag niemand in Zahlen zu fassen. Für die Nazi-Zeit – übrigens ebenso für die Zeit der DDR – lässt sich feststellen, dass jenseits aller offiziellen Ideologie christliche Tradition in unterschiedlichen Formen überlebt hat – vielleicht gerade, weil es den Druck von außen gab, bot diese Innerlichkeit ein nicht kontrollierbares Rückzugsgebiet.

Seit der „Entdeckung der Kindheit“ bildete sich im 19. und 20. Jahrhundert neben den anderen Formen der Weihnachtslieder eine eigene Liedkultur von – manchmal auch nur vermeintlich als kindgemäß empfundenen – Advents- und Weihnachtsliedern in Kindergarten und Schule aus. Die Adventszeit – von Kindern als eher überflüssige zeitliche Warteschlange vor Weihnachten empfunden und von Erwachsenen den Kindern gegenüber als Bewährungs- und Artigkeitserprobungszeit missbraucht – entwickelte passend zur soziokulturellen Funktion Lieder wie „Lasst uns froh und munter sein“, „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt“ usw. Das grundlegende Heilsereignis wird als Hintergrundfolie vorausgesetzt, kaum mehr daran erinnert. Eigentliche Liedinhalte sind Geschenke, Gemüt und Gemütlichkeit. Wichtiger als Sinnvermittlung ist die Integration aller, auch derer, die sich von Weihnachten nicht angesprochen fühlen. Kinder wachsen mit diesen Liedern auf, in denen sich für sie Weihnachten konkretisiert, falls ihnen nicht doch noch ganz andere Horizonte eröffnet werden.

Die gegenwärtige gesellschaftliche Realität wird aber nicht nur allein durch die eher unverbindlichen Weihnachtslieder aus Kindergarten und Schule beschrieben. Spätestens nach Allerheiligen und Allerseelen dudeln die Lautsprecher in Kaufhäusern und auf Weihnachtsmärkten stereotyp, aufdringlich und nervig „Weihnachtsmusik“ bis zum Stadium der Unerträglichkeit. Auch die Vermarktung des Weihnachtsliedes in der Regie einer „Kulturindustrie“, das Weihnachtslied als käufliche modische Ware, die beliebige Konsumierbarkeit weihnachtlicher Lieder und die mit ihr verbundene Kommerzialisierung der Weihnachtslieder beschreiben die jüngste aktuelle Entwicklungsstufe. Neben Klassik gibt es klassische Oldies auf dem Markt: „Jingle Bells“, „I’m dreaming of a White Christmas“ oder „Petit papa Noel“. Jede halbwegs etablierte Pop-Größe produziert inzwischen wenigstens einen Weihnachtstitel, um sich auch vom Weihnachtsplattenkuchen einen Teil herausschneiden zu können. Die New Kids on the Block singen den „Little Drummer Boy“, Cliff Richard „Mistletoe And Wine“, Ella Fitzgerald „Winter Wonderland“, Elton John „Step Into Christmas“, Chris Rea „Joys of Christmas“ und Boney M. „When A Child is Born“, um nur einige wenige zu nennen.

Vom ernsten hymnischen Lied in der Kirche zum kirchlichen Wechselgesang, zum zelebrierten Kunstlied im Salon, heimeligen Familiengesang, oppositionellen Wandervogelweihnachtslied, nationalsozialistischen braunwabbernden Gefühlschnulzen zu vermarkteten Christmas-Hits und X-mas-Raps: Das Weihnachtslied hat vieles auszuhalten und ausgehalten. Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg, eine neue traditionsorientierte Kultur von Weihnachtsliedern zu begründen, haben bislang nur wenig gefruchtet. Eine überzeugende Antwort auf das kommerzialisierte Weihnachtslied steht noch aus.