Vom Sinn der „leeren Schüsseln“ – Fasten
Das Leben „secundam carnem“ oder „secundam spiritum“
Das mittelhochdeutsche Wort vasten, althochdeutsch fasten, gotisch fastan, englisch to fast [vgl. fast food!], schwedisch fasta, bedeutete im Gotischen „[fest-] halten, beobachten, bewachen“. Der christlich-asketische Gehalt in Form der Enthaltsamkeit scheint – ausgehend von der ostgotischen Kirche – mit dem Wort zuerst im Sinn von „an den Fastengeboten festhalten“ verbunden worden zu sein und sich im 5. Jahrhundert ausgebreitet zu haben. Substantiviert wurde daraus „das Fasten“ und „die Fasten“ als Fastenzeit.
Was Fasten bedeutet, hat sich auch in der Umgangssprache festgesetzt. Mit ironischem Charme formulieren die Franzosen: „Danser devant de buffet“ = Vor dem (leeren) Küchenschrank tanzen. Parallel heißt es in einer deutschen Redensart: „Vor leeren Schüsseln sitzen“ oder „Die Schüssel leer finden“, d.h. keinen Anteil erhalten oder zu spät zum Essen kommen, wenn nichts übrig geblieben ist. Fasten – nicht zu verwechseln mit Diät oder Schlankhungern – versteht sich als religiös begründete freiwillige Nahrungsenthaltung in Bußzeiten. Bußzeiten sind alle Freitage des Jahres und die österliche Fastenzeit. An allen Freitagen gilt zudem das Gebot der Abstinenz. Die Enthaltung von Fleischspeisen dient der Erinnerung an den Tod Jesu, dessen an allen Freitagen gedacht wird. Von Aschermittwoch bis zur Ostermette dauert die österliche Fastenzeit, in der die Regeln des Fastens gelten: nur eine volle Mahlzeit pro Tag und zwei kleine Stärkungen. Zwei Tage im Jahr sind Fast- und Abstinenztage zugleich: Aschermittwoch und Karfreitag. An diesen Tagen soll nur eine sättigende Mahlzeit ohne Fleisch eingenommen werden. Die deutschen Bischöfe haben 1978 diese Regelung bestätigt. Für den Freitag haben sie aber auch geistliche Opfer anerkannt wie z.B. Gottesdienstbesuch, Dienst am Nächsten usw. sowie ein Verzichtopfer, bei dem das Ersparte Menschen in Not zukommen soll.
Als geistliche Methoden bedeuten Fasten und Abstinenz ein Leben im Geist der Buße, Bereitschaft zur Umkehr und Neuausrichtung auf Gott. Fasten erwartet von Christen Abwendung von sinnlichen Genüssen, Drosselung des körperlichen Energiehaushaltes und Konzentration auf außerordentliche Bewusstseinszustände, Kontemplation. Geschlechtliche Enthaltsamkeit und Schweigen können das Fasten ergänzen. Die geistige Aufnahmefähigkeit wächst und die natürlichen Sinne werden frei für übernatürliche Wirklichkeiten. Als Mittel geistlichen Lebens erlaubt Fasten die Überwindung der Spaltung des Menschen in Körper und Geist.
Im Alten Testament wird vielfältig und ausführlich über das Fasten berichtet. Jesus übt heftige Kritik an der jüdischen Fastenpraxis, die ihm mehr Schein als Sein war. Weil Jesus vor Beginn seines öffentlichen Wirkens 40 Tage gefastet hat (Mt 4,2), wurde das Fasten und seine symbolhafte Dauer (auch Noah und Moses werden nach je 40 Tagen aktiv) Zeitmaß des vorösterlichen Fastens der Christen. Bis zum heutigen Tag verpflichtet das Kirchengebot alle Katholiken, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, zur Abstinenz. An das Fastengebot sind alle, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, bis zum Beginn des 60. Lebensjahres gebunden. Das Mittelalter hatte zum Teil außerordentlich strenge Fastenregeln: Verboten waren alle Fleisch- und Milchprodukte, die sogenannten Laktizinien (Milch, Käse, Butter) und Eier, die als „flüssiges Fleisch“ galten. 1491 wurden die Fastengesetze erstmals etwas gelockert und Papst Julius III. (1550–1555) erteilte allen Christen Dispens für Butter bzw. Öl und Eier, Käse und Milch.
Das Fastengebot hat seit jeher die Phantasie der Menschen angeregt, um das Fasten, wenn schon nicht zu einem kulinarischen Ereignis, dann aber doch zu einer erträglichen Zeit werden zu lassen. Auf „rheinisch-katholisch-schnoddrig“ liest sich dies so: „Wer schon fasten muss, soll wenigstens gut essen!“ Dass in mittelalterlichen (natürlich bayerischen!) Klöstern die Gans und die Biber zu „Wassertieren“ gleich Fischen und damit zur erlaubten Fasten(!)speise gemacht wurden, scheint eine unausrottbare Fama zu sein. Starkbier als Fastengetränk (Fastenbier) war aber in Klöstern normal, weil Bier das einzige Getränk des Mittelalters für einfache Leute war und den Mönchen auch in der Fastenzeit die notwendige Energie für schwere körperliche Arbeit zuführte. Wissen muss man dabei, dass es Kaffee und Tee noch nicht gab, (nicht abgekochtes) Wasser zu trinken vielfach unhygienisch war und sich Wein allein schon aus Kostengründen nicht als Alternative anbot. Natürlich blieb die Menge des Bieres pro Mönch aber streng rationiert.
Dennoch ist die Geschichte des Fastens nicht ohne Überraschungen für den modernen Betrachter, der sie ausschließlich unter spirituell-asketischen Gesichtspunkten sieht. Nicht nur vom heiligen Thomas von Aquin ist bekannt, dass er einen außerordentlichen körperlichen Umfang besaß. Von einschlägigen Berechnungen wissen wir heute, dass französische Mönche im Mittelalter täglich durchschnittlich 5.000–7.000 Kalorien aufnahmen, an Festtagen auch erheblich mehr, an Fasttagen eben weniger. Hier ging es nicht nur um den Grundsatz, dass auch essen soll, wer arbeitet. Die Speckschicht der Mönche war auch ein Schutz gegen die Kälte in den ungeheizten Schlafräumen und Folge einer permanenten Angst vor dem Hungertod.
Wie bei jeder Großorganisation boten Neuheiten, die eine Grundsatzentscheidung notwendig machten, ausreichenden Anlass, – ob guten Glaubens oder auch nicht – das System zu hinterfragen. Das galt natürlich auch für die Fastenzeit. So wurde zum Beispiel die Schokolade als Fastenspeise legitimiert. 1569 hatten die Bischöfe von Mexiko eigens Fra Girolamo di San Vincenzo in den Vatikan zu Papst Pius V. (1566–1572) gesandt, damit dieser entschied, ob das Getränk mit dem Namen Xocoatl von der Frucht des Cacahatl und dem Baum Cacahaquahuitl in der Fastenzeit getrunken werden dürfe. Das Konzil von Trient (1545–1563) hatte gerade die Kirchendisziplin zu verschärfen gesucht, natürlich auch das Fastengebot. Als der Papst widerwillig von der heißen Schokolade gekostet hatte, soll er gesagt haben: „Potus iste non frangit jejunium„ – Schokolade bricht das Fasten nicht. Seinen Siegeszug trat der Kakaotrunk an, als in einem Kloster entdeckt wurde, dass man das Fett vom flüssigen Kakaobrei abschöpfen und diesen durch Beimischung von Vanille und Zucker trinkbar machen kann. In Guatemala erfanden Klosterköche, wie man Schokolade in Form von Tafeln als feste Speise konservieren konnte. Von Italien aus trat die Schokolade einen Siegeszug in Europa an – und führte Anfang des 17. Jahrhunderts zu einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen den Jesuiten und den Dominikanern. Während die Jesuiten für die Schokolade eintraten, führten die Dominikaner einen Feldzug dagegen. Zahlreiche Schriften erschienen; erst 1662 fand die Auseinandersetzung ein Ende – durch eine Schrift des Kardinal Brancaccio zu Gunsten der Schokolade.
Es gibt genügend glaubwürdige Berichte aus der Vergangenheit, die belegen, dass es unsere Vorfahren verstanden haben, den Buchstaben der geltenden Fastenregeln zu entsprechen, zugleich aber ihrem Geist heftig zu widersprechen. Es sind nicht nur Gelage belegt, die jedweden Luxus an Fischgerichten auf den Tisch brachten. Bekannt sind auch zahlreiche scheinbare Fleischgerichte, die aus Fisch hergestellt wurden, z. B. Würstchen aus Fisch, so raffiniert gewürzt, dass sie wie Schweinswürstchen schmeckten. Immer wieder mussten die Gläubigen daran erinnert werden, dass es nicht auf die Buchstaben (der Fastengebote) ankam, sondern auf den Geist. Darum waren kostspielige raffinierte Fischgerichte ebenso zu meiden wie Fleisch (so z.B. das Provinzialkonzil 1536). Die Gläubigen mussten immer wieder neu erkennen, dass Fasten kein Selbstzweck ist, sondern eine disziplinarische Übung, ein Verzicht, der die Sinne frei macht für neue religiöse Erfahrungen. Enthaltsamkeit soll Herz und Seele für den Dienst Gottes freier, lebendiger und williger machen. Nach Augustinus lebt der Mensch gewöhnlich „secundam carnem“ (gemäß dem Fleisch); das Fasten aber gestattet ihm „secundam spiritum“ (ausgerichtet nach dem Geist Gottes) zu leben. Die geistgemäße Lebensart der Fastenzeit löst darum die fleischorientierte Karnevalszeit ab.